Bekommt man die Ehre erwiesen, Signore Cucinelli zu einem Interview an seinem Firmensitz zu besuchen, wird man nicht in der Fabrik unten empfangen, man fährt hinauf nach Solomeo, einem verschlafenen Dorf ganz in der Nähe von Perugia.
Und blickt vom Dorfplatz vor der Kirche auf die bukolische Landschaft Umbriens, einer Region die sich weder in Sachen Schönheit, noch wegen seiner kulinarischen Leistungen, und schon gar nicht was die Preiswürdigkeit anlangt, hinter der nebenan liegenden Toscana verstecken muss. Den uralten Ortskern hat Cucinelli detailverliebt renovieren lassen, aus der Musikschule hört man, wie ein Tubist seine Tonleitern übt, im Schneideratelier pfauchen die Dampfbügeleisen, unten in der Ebene zieht ein Traktor seine Runden um den Fussballplatz, dessen Tribünen kurz vor der Fertigstellung stehen. Auch dieses Projekt hat Cucinelli seinem Dorf ermöglicht.
Man fühlt sich an die Zeit der Rennaissancefürsten erinnert, auch die Bildwelt der Website der Firma Cucinelli zeigt eine stimmige, elegante Idealwelt, in der schöne Frauen und knorrige Männer italienischen Lifestyle vom Feinsten in schwarz-weiss vorleben.
Unter der Rubrik „Philosophie“ wird neben der sozialen Verantwortung, welcher Cucinelli sich, wie man hier überall mit eigenen Augen sehen kann, auch dem „guten Kapitalismus“ das Wort geredet. Als sich Brunello Cucinelli mit einem enthusiastisch vorgetragenen „Die Welt war noch nie so gut wie heute!“ zu mir gesellt, will sein überschwenglicher Optimismus nicht sofort auf mich überspringen. Noch nicht. Und ich erlaube mir das Gespräch mit einer provokanten Frage zu eröffnen.
Signore Cucinelli, sind sie nun politisch betrachtet ein Rechter Reaktionär oder doch nicht?
Aber nein, weder noch! Platon lässt Sokrates in „Politeia-Res Publica“ so schön sagen: „ich möchte im Respekt vor den Gesetzen leben, die mir meine Regierung gibt!“ Von denen mögen mir manche mehr, manche weniger gefallen, ich würde nur gerne von erleuchteten, humanistisch gebildeten Menschen regiert werden, egal, ob sie nun links oder rechts im Parlament sitzen.
Dabei muss man jederzeit im Jetzt stehen, zeitgemäß handeln, sich anpassen. Natürlich kann sich auch der Kapitalismus dem nicht verschließen, das meine ich mit einem neuen, guten Kapitalismus.
Cucinelli hat leicht reden, alles hier in Solomeo scheint seine Ideologie zu untermauern. Alle nennen ihn beim Vornamen Brunello, von seinem Büro im Turmzimmer des uralten Herrenhauses inmitten des kleinen Ortes am Hügel blickt man auf handwerklich die perfekt restaurierten Gebäude, im schönsten davon hat er eine Schneiderschule eingerichtet.
Aber wie soll nun dieser neue Kapitalismus denn funktionieren?
Wir leben heute in einer völlig veränderten, neuen Welt. Erstmals in der Geschichte kann jeder von Jedem Alles wissen. Mein Vater, ein ungebildeter Bauer, der sich verändern, seine Lebensumstände verbessern wollte, gab seinen Hof auf und suchte Arbeit in einer Fabrik für Betonfertigteile. Man sprach über eine Villa, die der Fabriksbesitzer irgendwo hätte, aber niemand wusste genaueres.
Heute hingegen müsste er nur Google Earth aufrufen, könnte sehen, wo sein Chef gerade an der Cote d´Azur am Pool liegt, während er schuftet. Man muss also geradezu wahrhaft und ehrlich sein, um glaubwürdig humanistische Ideale zu vertreten. Egal was ich tue, wie ich mich fühle, ich kann mich nicht verstecken, alle haben Zugang zu Informationen. Mein Credo ist, dass es heute, vielleicht mehr noch als immer schon, das wichtigste Thema des Homo Sapiens ist, human und humanistisch zu handeln.
In der Meisterklasse über der Loggia an der Piazza Carlo Alberto della Chiesa messen, nähen, bügeln sechs Studenten konzentriert an ihren edlen Werkstücken. Auch der Meister ist versunken in seine Arbeit, nur wenn einer seiner Schützlinge Hilfe braucht, ist er rasch und ruhig mit Rat zur Stelle.
Durch die offenen hohen Fenster hört man Vogelgezwitscher und Tonleitern aus der Musikschule gegenüber. Sechshundert Ragazzi haben sich beworben, das glückliche Prozent freut sich nicht nur über 1200 Euro monatlich sondern vor Allem über die hervorragende Ausbildung. „So haben wir, wenn wir fertig sind, eine echte Chance auf eine erfolgreiche berufliche Zukunft!“
Information und Wissen als Grundlage eines neuen, humanen Systems also. Aber ist der Zugang dazu nicht sehr ungleich verteilt?
Das galt bis vor zwanzig Jahren, heute nicht mehr. So ein Interview wäre früher in der Zeitung abgedruckt worden, zwei, drei Tage präsent gewesen, danach verschwunden. Heute ist alles hier, im Celulare, dem Mobiltelephon, und zwar für immer. Jeder kann, wenn er will, meine Aussagen nachlesen und überprüfen, wie ernst ich es meine, ob ich nach meinen eigenen Ansprüchen lebe.
Voltaire hat gesagt, wenn du in deiner Zeit nicht gewillt bist, dich den Veränderungen anzupassen, wird sie dich zum Schlechteren verändern. Ich akzeptiere sie gerne.
Mit dieser neuen Möglichkeit der Offenheit geht auch eine Renaissance der Moral einher. Wir haben dreißig Jahre der Krise hinter uns, ich spreche nicht von der Wirtschaft, sondern von Moral, Ethik, Gesellschaft. Die drei großen Ideale, „bella politica“, Familie und Religion haben sich erholt, selbst der Pabst spricht vom Menschen als Custos, Beschützer der Schöpfung, und von der Verantwortung, die Armut, den Lebensumständen der hart arbeitenden Menschen, die es zu bekämpfen gilt.
Aus dem Fenster in der Wand, an welcher Bilder von Cucinellis Lieblingsdenkern hängen sieht man hinunter auf die Baustelle des neuen Stadions, welches er für den lokalen Sportclub errichten lässt. Die Tribünen sehen, obwohl noch nicht ganz fertiggestellt, aus, wie aus alten Zeiten, das Dach wird von massiven Holzbalken getragen. Genau wie jenes im Teatro Cucinelli auf der anderen Seite des Dorfes, welches ganz in antiker Tradition errichtet ist, Alabasterbüsten bedeutender Philosophen wachen über das Auditorium. Direkt vor dem Fenster hinter Cucinelli zeigt die Kirchturmuhr die Zeit.
Aber hat nicht gerade auch die Kirche Mitschuld an den Verhältnissen auf sich geladen?
Ach, die Kirche interessiert mich gar nicht, weder die in Rom, noch das Judentum, Islam oder Atheismus. Mir geht es um die Spiritualität. Als ich das erste Mal in China war, habe ich Menschen gesehen, die gelebt haben wie die Tiere. Und eigentlich hat sich für Asien niemand interessiert, vielleicht Indien, zum Bereisen.
Was zählte, war die so genannte entwickelte Welt, Europa, Nordamerika, Japan. In der Schule habe ich in den neunzehnhundertsiebziger Jahren gelernt, im Jahr 2000 werden Milliarden Menschen auf der Erde leben. Und nun sind es schon über sieben, doch ich bin überzeugt, wir werden bald alle gleich gut leben.
Für Cucinellis Angestellte wird das plausibel klingen, sie leben tatsächlich nicht schlecht. Soeben hat unten in der neuen Fabrik die Mittagspause begonnen, gemütlich schlendert man hinüber zur Kantine. Die würde nicht nur architektonisch als Gourmetrestaurant durchgehen, die Qualität der Paste, Insalate, Secondi und Dolce lässt auch für den verwöhntesten Gourmet keinen Grund zur Klage. Aber schon jenseits des Mittelmeeres schaut es doch ganz anders aus.
Aber, Signore Cucinelli, wie sieht es mit den gewalttätigen Auseinandersetzungen aus, von denen wir täglich hören?
Ich will ja nicht behaupten, dass wir in einer perfekten Welt leben, aber die Tendenz ist eindeutig positiv. Wie Steven Pinker in seinem Buch „The better Angels of our Nature“ belegt, hat die Bedeutung der Gewalt im Laufe der Menschheitsgeschichte massiv abgenommen, die Zahl der Morde ist auf ein tausendstel von früher gefallen. Mein Großvater hat den großen Krieg durchgemacht, mein Vater die Diktatur, den Hunger, noch einen Krieg. Meine Brüder und ich sind die ersten in unserer Familie, die das alles nicht miterleben müssen und für meine Kinder bin ich auch ausgesprochen zuversichtlich.
Natürlich können wir uns nicht vorstellen, in einer Welt von sieben Milliarden ganz ohne Probleme zu leben. Aber es sieht jetzt doch tatsächlich wesentlich besser aus als vor fünfzig, hundert Jahren. Oder gar noch früher, als Menschen Eigentum eines Anderen waren, das ist heute doch praktisch überall undenkbar. Ich war immer vom „Principe“ Macchiavellis fasziniert, dem Prinzipat eines Erleuchteten. Aber zu seinen Zeiten gehörten Menschen ihren Herren, das gefällt mir überhaupt nicht. Denn noch wichtiger als das Brot ist für den Menschen doch die Würde! Ich persönlich ertrage lieber ein wenig Hunger und Durst als auf die „dignita“, die Würde zu verzichten. Selbst Aristoteles hat die Ethik als der Philosophie übergeordnetes System bezeichnet.
Schön für die Menschen von Solomeo, einen Arbeitgeber zu haben, der sich nicht nur in schönen Worten ergeht, sondern diesen auch taten folgen lässt. So ist es hier ausdrücklich verboten Überstunden zu machen, um Halbsechs muss jeder nach Hause gehen, zur Familie. Oder auf den Fußballplatz. Ein sympathisches Konzept, das in allen Unternehmensprospekten auch ausführlich philosophisch erklärt wird. Mit einer logischen Schlussfolgerung.
Sie schreiben, es gibt Zeiten, wo Philosophen die Macht übernehmen müssen. Wann ist es soweit?
Marc Aurel, der im zweiten Jahrhundert regierte, musste gegen die Germanen, die Pest und wirtschaftliche Schwierigkeiten kämpfen. Er regierte als Kaiser, dachte als Philosoph, war der wichtigste und beste Imperatore für die Menschen und die Menschlichkeit. Oder Friedrich der Staufer, der nach seiner Krönung zum Kaiser zum Sultan gereist ist, um seine Freundschaft zu gewinnen, weil er eine Vision von einer größeren, offeneren Welt hatte.
Es ist doch völlig gleichgültig, welche Herkunft, Farbe oder Nationalität hat, wir sind alle die gleichen menschlichen Wesen. Und können nur voneinander und miteinander lernen, dazu muss man aber auch jemandem zuhören können, dessen Meinung oder Weltanschauung nicht teilt. Ich habe vergangene Weihnachten meinen engsten Freunden Plutarchs Text „über das Zuhören“ geschenkt, daraus kann man noch immer viel lernen. Oder, wie es der sizilianische Nobelpreisträger Salvatore Quasimodo gesagt hat:
„Wir haben einen Mund aber zwei Ohren. Lasst sie uns dementsprechend proportional nutzen!“