Die Stelvio 1200 8V NTX trägt nicht zufällig den Namen einer der höchsten Passstraßen der Alpen. Wir schrauben sie auf das Stilfser Joch rauf: auf 2760 Meter.
Der Plan mag zwar nicht wahnsinnig originell gewesen sein, dafür aber bestechend: Die Moto Guzzi Stelvio 1200 8V NTX sollte – nomen est omen – am Stilfser Joch getestet werden. Schließlich wollten wir schauen, ob die Namensgebung maßloser mediterraner Selbstüberschätzung entsprang, oder ob die Mörderhummel von einer Big Enduro – mit fahrfertigen 272 Kilogramm nicht gerade ein Zniachtl – tatsächlich den hochtrabenden Namen mit Stolz tragen darf.
Hubert Freiler vom Guzzi-Importeur Faber – der die Maschine für den Test zur Verfügung stellte – versprach mir: „Sie wird dir in den Bergen ganz besonders taugen. Glaub mir.“ Tat ich. Und nach getaner Arbeit: Tue ich.
Erstaunlich regenfest. Für die Annäherung an den Bergriesen Ortler (3905m), an dessen Flanke das Stilfser Joch die Verbindung zwischen Südtirol und der Lombardei bildet, entschied ich mich für die Strecke Wien – Semmering – Leoben – Klagenfurt – Hermagor – Sillian – Bruneck – Bozen.
Super Strecke mit null Verkehr (außer im Pustertal), bloß wählte ich justament einen Tag, an dem ich nicht ein Mal oder zwei Mal in den Regen kam, sondern sieben Mal. Doch die Guzzi hält erstaunlich trocken, sofern man die jeweils erlaubte Höchst- auch tatsächlich als Richtgeschwindigkeit interpretiert und das Windshield in der obersten Position arretiert. Die Pirelli Scorpion Trail brachten die 105 PS bzw. die 113 Nm souverän auf die Straße. Bloß bei viel Nässe regelte das ABS hinten relativ früh rein.
Südtiroler Lichtspiele. Für’s Gesehen-Werden sorgt eine Lichtanlage, um die man sogar von Autofahrern beneidet wird. Zusätzlich zu den beiden basedow’schen Scheinwerfern (Copyright Guido Gluschitsch) sorgen zwei Zusatzleuchten für viel Durchblick bei grauem und schwarzem Licht rundum.
Auf den kurvigen Straßen Südtirols kann man die Festbeleuchtung ruhig auch sonst anlassen. Ein paar Autofahrer verrissen ihre Kiste nach einem Blick in den Rückspiegel und machten brav Platz.
Mitico Gustavo! Am vierten Tag in Südtirol liefert die Webcam am Stilfser Joch endlich Bilder, die anderes zeigen als bloß Nebelschwaden und Schneeregen. Koffer weg, Windshield runter, 32-Liter-Tank gefüllt, Spiegel eingestellt (die kleinen Dinger haben einen relativ großen toten Winkel, das kann man besser lösen)… und los geht’s!
Erster Fotostopp ist beim Gustav Thöni. Diese Skilegende der frühen und mittigen 1970er Jahre betreibt in Trafoi ein Hotel mit Blick auf den Ortler und die Passhöhe. Ab da geht es fahrtechnisch knackig zur Sache…
48 Kehren bergauf. Auf einer Gesamtlänge von 49 Kilometern zählt die Straße auf der Südtiroler Seite 48 Kehren. Drüben, nach Bormio runter, sind es dann noch einmal 34 Kehren vom Allerfeinsten. Wer bisher richtige Linienführung und Blicktechnik (weeeeiiiit in die Kurven hinein!!!) nicht gelernt hat, der/die lernt es hier. Oder nimmermehr.
Vor allem die Rechtskehren bergauf sind eeeenge Hundlinge. Nichts als Bewunderung hatte ich für einen Deutschen übrig, der – nanonaned – auf seiner 1200er GS um die Ecken zirkelte, als säße er nicht auf einer BMW, sondern auf einem Mountainbike.
Chapeau für die Radler. Und Hochachtung ist den hunderten Radfahrern zu zollen, die sich die (fast) 2000-Höhenmeter-Schinderei antun. Kaum zu glauben, dass ich vor exakt 13 Jahren einmal dazu gehört habe. A propos: Ich sollte schnellstmöglich wieder in Form kommen! (Den Vorsatz habe ich alljährlich mindestens 300 Mal.)
König Ortler. Sodala! Da vorne ist sie, die allerletzte Kehre vor der Passhöhe! Schon lege ich die Guzzi für die letzte Linkskehre an, als der Franzose in seinem hellblauen Fiesta vor mir plötzlich in der Kurve stehen bleibt und sich entschließt, doch auf den gatschigen Parkplatz einzubiegen.
Ich kann berichten: Die doppelscheibige Vorderbremse funktioniert auch in engen Kurven tadellos. Zwar nickt die mächtige Marzocchi-Gabel stark ein, aber alles bleibt kontrollierbar. Nur sollte man in starker Schräglage nicht zum Stehen kommen: Die Mörderhummel würde dich gnadenlos zu Boden ziehen.
Euphorischer Blick zurück. Der Blick zurück ist sensationell. Das alles bin ich gefahren?! Yeah! Da, ganz hinten und ganz unten, das ist der Vinschgau…
Doch die Ausgesetztheit und Abgeschiedenheit täuschen… es riecht streng nach Bratwürsten aller Art und Qualität, außerdem wummert Hiphop aus den Boxen der vorbeifahrenden Autos.
Voll auf der Höhe. Und es sind viele Autos. Und Motorräder. Und Fahrräder. Und überhaupt Menschen. Viele Städter wirken eindeutig deplatziert auf fast 3000m, so weit weg von Gucci und Manolo.
Doch die Stelvio harmoniert bestens mit dem Stilfser Joch! Zwar könnte sie bei Kriechtempo leichtfüßiger sein, aber ab 30 km/h gibt’s nichts zu bemäkeln. Herrlicher Motor, wunderbares Getriebe! Nie ist der eingelegte Gang der falsche. Einfach fahren.
Und wieder in die Tiefe. Die 34 Kehren runter nach Bormio lassen die Vorzüge der großen Kubatur und des Kardanantriebs erkennen. Fein dosierbare Motorbremse ohne Ruckeln oder Schlagen. Ein Aufstellmoment wegen des Kardans konnte ich nicht feststellen – wenn, dann im Stop-and-Go-Verkehr in der Stadt (ohnehin nicht die Domäne der Primadonna).
Ach ja, die Stadt: Der mächtige, luftgekühlte V2 produziert nicht nur einen sensationellen Sound, sondern auch ordentlich Wärme. Man sollte daher über eine eher hohe Hitzetoleranz im Schrittbereich verfügen.
Die Eishölle von 1988. Gleich nach Bormio geht’s wieder bergauf, diesmal mit null Verkehr. Das nächste Ziel heißt Gavia-Pass, 2621m. „Il Gavia“ hat bei den radsportnarrischen Italienern einen noch größeren Stellenwert als „Lo Stelvio“.
Hier, wo es erst seit wenigen Jahren eine durchgehende Asphaltdecke gibt, spielten sich beim Giro d’Italia schon zahlreiche Dramen ab. Etwa am 6. Juni 1988, als bei dichtem Schneefall alle jämmerlich eingingen und allein der Amerikaner Andy Hampsten tapfer durchhielt, weil er halt den Rat der Großmutter befolgt und sich was Warmes zum Anziehen mitgebracht hatte. Einer der seltenen Fälle, in denen der Held eine lange Unterhose trug.
Genuss und Sonderprüfung. Fahrtechnisch ist die Straße vor allem auf der „hinteren“ Seite Richtung Ponte di Legno Genuss und Sonderprüfung zugleich. Im oberen Bereich freut man sich, dass die Guzzi ordentlich Federweg und Schlechtwegebereifung hat, alles ist vom Frost aufgesprungen, noch im Sommer rinnen Schmelzwasserbäche über die Straße.
Nach der Passhöhe geht es gleich zur Sache. Leitschienen sind ohnehin nicht des Bikers bester Freund, also hat man sie hier zumeist einfach weggelassen. Das eröffnet auch spektakuläre Blicke in die Tiefe. Stellenweise ist die Straße nur 2,5 Meter breit. Eine tolle, tolle Straße. Hoher Suchtfaktor!
Abschlussheizerl. Ab Pietra Rossa ist Heizen angesagt. Einfach angehängt an einer Dreierkombo deutscher Motorradfahrer, und im Nu bin ich am landschaftlich alles andere als reizvollen Tonalepass. Der ist wahrscheinlich am schönsten, wenn er winters tief verschneit ist und als Basislager für das Adamello-Skigebiet dient.
Die Guzzi freilich sieht nur die Straße mit ihren idealen Radien. Einfach legen, drücken, legen, drücken, legen, drücken… und plötzlich ist man wieder am Mendelpass, der eine Fernsicht rüber zum Rosengarten und zur Latemargruppe (Bild) eröffnet.
Die Alternative zu Ehschowissen. Tags darauf geht es wieder Richtung Heimat, diesmal bei Prachtwetter über den Fedaiapass inkl. Fotostopp vor dem Marmolada-Gletscher.
Am Ende sprach der Bordcomputer etwas von 4,6 Litern Durchschnittsverbrauch auf 100 Kilometer. Das ist bei gemischter Solo-Fahrweise (Autobahn–Stadt–Land–mit–ohne–Gepäck) nachgerade bescheiden. Wir reden hier von 105 PS, fast 400 Kilogramm inklusive Fahrer und Gepäck und einem respektablen Luftwiderstand dank der beiden mitgeführten Kleiderkästen.
Fazit: Ein ideales Reisemotorrad. Ganz schön bequem. Souverän auf der Autobahn, eine Gaudi im kurvigen Geläuf. Ein bissl schwer halt beim Rangieren. Viel Strahlungshitze vor der ewig-roten Ampel. Etwas mühsam im engen Winkelwerk italienischer Städte, aber dafür wurde sie ja nicht gebaut.
Eine mehr als ordentliche Alternative, wenn man keine Bayerin, Österreicherin, Britin oder Japanerin will. Und der Preis von 16.499,- Euro inklusive Adventure-Kit (Windshield, Handprotektoren, Zusatzscheinwerfer, Sturzbügel und Koffer) ist zwar nicht nichts, aber vergleichsweise moderat. Wobei man bei der Qualität keine Abstriche machen muss. Alles grundsolide. Auch das soll wohl der Name Stelvio suggerieren.
Gianluca Wallisch – 11.August 2014 – derstandard.at
Technische Daten
Motor: 90° V-Twin 2-Zyl. 4-Takt
Kühlung: luftgekühlt
Hubraum: 1.151 ccm
Max. Leistung: 105 PS (77 kW) bei 7.000 U/min
Max. Drehmoment: 113 Nm bei 5.800 U/min
Getriebe/Antrieb: 6 Gänge, C.A.R.C.Kardanantrieb
Auspuffanlage: 2 in 1 Anlage aus Edelstahl, 3-Weg-Katalysator mit Lambda Sonde, Euro 3
Federung vorne: Upside Down-Gabel, hydraulische Zug- und Druckdämpfung
Federung hinten: Einarmschwinge, Einzelstoßdämpfer mit getrenntem Gasdruckdämpfer, hydraulische Zug- und Druckdämpfung
Bremsen vorne: Doppelbremsscheibe, 4 Kolben Bremsattel, ABS
Bremse hinten: Scheibe, schwimmend gelagerter 2 Kolben Bremssattel, ABS
Antischlupfregelung: elektronische ASR, abschaltbar
Bereifung vorne: 110/80 19″
Bereifung hinten: 150/70 17″
L / B / H: 2.305 mm / 1.080 mm / 1.475 mm
Radstand: 1.495 mm
Sitzhöhe: 820/840 mm höhenverstellbar
Eigengewicht fahrfertig: 272 kg
zul. Gesamtgewicht: k.A.
Tankvolumen: 32 Liter