Dich kenn ich doch! Bist du nicht die kleine Guzz’n, mit der ich schon voriges Jahr beim „Distinguished Genteman’s Ride“ in Wien gute Figur gemacht habe? Eben! Gut schaust aus… aber anders… ein bissl verwegener… und staubiger.
Customizing über alles. Ist auch kein Wunder: Mit dem aktuellen Modelljahr gab es nicht nur einen Schippl technischer Neuerungen – Getriebe, Motoraufhängung, ABS, ASR –, sondern auch die Idee, den Custom-Markt nicht gänzlich und unkontrolliert Drittanbietern zu überlassen. Also haben sich die Leute in Mandello del Lario mehrere Customizing-Konzepte überlegt, deren Bestandteile der künftige Guzzista im Paket oder einzeln ankreuzen – oder auch untereinander austauschen – kann. (Übrigens: Einen Text der unverbauten V7 gab es vor rund einem Jahr HIER.)
Themenwelten. Diese sogenannten Kits sind in Themengruppen zusammengefasst: Dapper, Dark Rider, Scrambler und Legend. In echt anschauen kann man sich die Modelle im Stil zwischen Café Racer, Military und Gatschhupfer bei zwölf hübsch über Österreich verteilten Moto Guzzi-Händlern (siehe Link). Und wer sich bei den Moto Guzzi Garage Days vom 21. bis 26. September 2015 eine V7 tatsächlich zulegt, bekommt Zubehörteile nach Wahl im Wert von 1.000,- Euro gratis, verspricht Importeur Faber.
To scramble = kraxeln. Ok, wir nehmen uns die Scrambler vor. Mal sehen… Zunächst einmal fällt die Auspuffanlage auf: Ein sehr schönes 2-in-1-System von Arrow, das im Stil der alten Scrambler der 60er und 70er Jahre oben verlegt ist. Sieht aus wie ein Maschinengewehr… und klingt teilweise auch so. Im Stand ein cooles Böllern, im urbanen Fahrbetrieb wegen der vernehmlichen Kardan-Mechanik fast schon unauffällig. Im freien Geläuf bei höheren Drehzahlen brüllt der Arrow dann wieder standesgemäß. Zu bedenken: Wegen Verbrennungsgefahr des/der Beifahrer/in ist die Scrambler nur für Einzelbetrieb zugelassen, daher gibt’s auch keine Fußrasten. Leider oder Gottseidank? Das entscheiden Sie…
Grobe Stollen. Nächstes auffälliges Merkmal sind die Reifen. Statt der serienmäßigen Pirelli Sport Demon werden Stoppler vom Offroad-Spezialisten Golden Tyre aufgezogen. Im Straßenbereich fast unbekannt, im Gelände sind aber die Italo-Koreaner eine Weltmacht. Hinten ziemlich grobstollig, überrascht dieser Reifen dennoch mit super Haftung und rumpelt praktisch nicht. Große, positive Überraschung. Der Grenzbereich kündigt sich früh an: Man glaubt dann, auf einem Radiergummi zu sitzen. Ist aber super kontrollierbar, schmiert nie abrupt weg.
Feine Stollen. Vorne geht’s weniger um Traktion nach vorne, sondern eher um gute Seitenführung, vor allem auf Schotter. Ins wirklich schwere Gelände verirrt man sich mit der Scrambler genau so oft wie die City-Bewohner mit ihren stets frisch gewaschenen SUVs. Ist man aber einmal auf einer Forststraße, dann hält auch der Vorderreifen sehr gut die Spur. Auf Asphalt merkt man kaum, dass man keinen reinen Straßenreifen fährt. Hält bombensicher die Spur. Prüfung bestanden. A propos Räderwerk: Natürlich kann man eine Scrambler mit Alufelgen machen, aber stimmiger wäre sie wohl mit Speichenrädern. Auch das ist machbar. (Siehe ganz unten.)
Antischlupfregelung. Die Segnungen moderner Elektronik erleichtern auch Motorradfahrern das Leben enorm – zumindest jenen, die zugeben, Normalsterbliche zu sein. ABS? Her damit! ASR? In der Stadt, v.a. bei feuchter Fahrbahn ganz super, wenn man es mit glitschigen Fahrbahnmarkierungen, Kanaldeckeln und Straßenbahnschienen zu tun bekommt. Vor allem wenig Geübte (und für die ist die A2-Schein-taugliche V7 prädestiniert) fühlen sich damit rasch sicherer. Im Gelände freilich ist ASR kontraproduktiv, deshalb kann man sie mit einem Griff an der Kupplung und einem Tippser am Startknopf temporär deaktivieren. Danke!
Bunte Federbeine. Ok, die Federsysteme von Bitubo sind nicht nur bunt, sondern auch gut. Sie lassen sich je nach Fahrergewicht und Gusto stufenlos von weich bis hart einstellen, einfach per Handgriff, ohne Werkzeug, geht auch am Moped sitzend vor der roten Ampel. Für grobe Pisten und Höhergewachsene wären etwas längere Federbeine nicht verkehrt. Ab einer Körpergröße von ca. 180cm wirkt die V7 prinzipiell schon… na sagen wir: kompakt.
Fußangel I. Wesentlich stabiler als in der Straßenversion sind die Fußrasten, das ist auch gut so, denn im leichteren Gelände fährt man viel auch stehend. Sehr massiv und wohl fast unkaputtbar der Bremshebel. Während aber viele Motorräder hier winzig kleine Pedale verbaut haben, ist das der V7 Scrambler riesig. Vorteil: Man kann fast nicht daneben zielen. Nachteil: Das Ding ist manchmal ganz schön im Weg.
Fußangel II. Auf der linken Seite das gleiche Spiel: Mit einer solchen Pedalerie kann man wohl auch Panzer steuern, da wird wohl lange nichts kaputt werden. Aber vor allem hier bekommt man wegen des langen Hebels Probleme, wenn man nicht gerade mit Turnschuhen, sondern einsatzgemäß mit Stiefeln fährt. Too big. Aber es lässt sich ja alles fein justieren… und zur Not auch abflexen oder abdremeln. Macht man bei einem Testmotorrad freilich nicht. Qualität und Verarbeitung sind jedenfalls topp.
Freiheit. Eine sehr positive Änderung zu den Vorjahren ist die neue Kniefreiheit für mittel-, große und ganzgroße Menschen. Da der Motor jetzt um einige Grad nach unten gekippt wurde, stößt man nicht mehr mit den Kniescheiben an den beiden Zylindern an. Gleichzeitig ist mit dieser Maßnahme der Schwerpunkt des Motorrades nach unten gewandert. Da aber mein eigener Schwerpunkt keine Verbesserungen vorzuweisen hat bzw. sogar größer geworden sein dürfte, habe ich davon – ehrlich gesagt – nichts gemerkt.
Große Nummer. Es gibt im Motorsport ein paar Nummern, die sind Kult. 27? Gilles Villeneuve. 11 und 12? Niki Lauda. 99? Jorge Lorenzo. 46? Valentino Rossi. So weit, so gut… aber 29? Halt, ich weiß! Karl Wendlinger auf Sauber 1994! Ja, schon, aber Moto Guzzi meint damit jemanden anderen, nämlich Omobono Tenni. Auf den steht man in Mandello del Lario ungemein. Nach ihm, dem Zwischenkriegszeitritter, dem ersten Nicht-Briten, der die Tourist Trophy gewann, hat man bei Guzzi nicht nur jenen sensationellen grüngrauen Farbton benannt, den sie bei der V7 und der Stelvio gern verwenden, sondern eben auch bei der Scrambler die Nummer 29 auf Cockpitverkleidung und Seitendeckeln. Googlen Sie nach Bildern von Tenni: Aus seinen Augen blitzte der süße Wahnsinn hervor.
Für unterwegs. Weil man auch in der Almhütte eine Zahnbürste braucht, lässt sich auch eine Tasche aus echtem Leder auf die Scrambler montieren. Freilich nur eine, und zwar links. Sie ist fest mit dem Trägerrahmen verschraubt, das hat aber den Vorteil, dass sie bombenfest hält. Unglaublich, wie schnell diese Lederteile Patina anlegen, man müsste dem Faber sagen, sie sollen sie mit Hirschtalg, Bienenwachs oder sonst einem wohlriechenden Retro-Mittelchen einreiben. Auf einen Blick.
Im Paket – oder einzeln – bietet Moto Guzzi für den Umbau auf einen Kraxler an:
– Kotflügel-Set Alu satiniert, vorne/hinten
– Reifenset „Offroad“ von Golden Tyre
– Auspuff „ARROW“
– Lenkerstrebe „Offroad“
– Werkzeugtasche Leder schwarz
– Seitentasche Leder schwarz
– Gepäckträger Schwarz
– Träger für Seitentasche
– Startnummernträger Alu satiniert
– Startnummernkleber Set
– Abdeckung Einspritzdüsen Alu satiniert
– Kennzeichenträger
– Blinkerhalter Alu poliert
– Fußrasten-Set „Offroad“
– Retro-Sitzbank
– Stoßdämpfer-Kit „Offroad“ von Bitubo
Preise. Als Basis für einen Umbau empfiehlt sich sowohl die „Stone“ mit Alufelgen (8.999,- Euro) als auch die „Special“ mit Speichenfelgen (9.999,- Euro). Je nach Umbaukit macht einmal die eine, einmal die andere mehr Sinn. Für Tüftler: Besuchen Sie die Website www.garagemotoguzzi.com – dort kann man virtuell experimentieren und gustieren, bevor es an die Arbeit im echten Leben geht. Spottbillig ist das Customizing freilich nicht, aber das ist bei anderen Marken auch nicht anders… da kommen schon ein paar Tausender zusammen, wenn man es drauf anlegt. Oft auch dann, wenn man es nicht drauf anlegt, sondern bloß die Leidenschaft mit einem durchgaloppiert.
Technische Daten der hier getesteten Moto Guzzi Scrambler auf der Basis der „Stone“ (Herstellerangaben):
Führerscheinklasse: A2
Motor: 90° V-Twin 2-Zyl. 4-Takt
Kühlung: luftgekühlt
Hubraum: 744 ccm
Max. Leistung: 48 PS (35 kW) bei 6.200 U/min
Max. Drehmoment: 60 Nm bei 2.800 U/min
Max. Geschwindigkeit: ~ 155 km/h
Getriebe/Antrieb: 6 Gänge, Kardan, ASR
Auspuffanlage: 2 in 1 Anlage aus Edelstahl, 3-Weg-Katalysator mit Lambda Sonde, Euro 3
Federung vorne: Hydraulische Teleskopgabel, Ø 40 mm
Federung hinten: Schwingarm aus Leichtmetall mit 2 Federbeinen, einstellbare Federvorspannung (Scrambler: Upgrade auf Bitubo, voll einstellbar)
Bremsen vorne: Ø 320 mm schwimmend gelagerte Bremsscheibe aus Edelstahl, 4 Kolben Bremssattel, serienmäßig ABS
Bremse hinten: Ø 260 mm Bremsscheibe aus Edelstahl, schwimmend gelagerter 2 Kolben Bremssattel, serienmäßig ABS
Bereifung vorne: 100/90 18″
Bereifung hinten: 130/80 17″
L / B / H: 2.185 mm / 800 mm / 1.115 mm
Radstand: 1.435 mm
Sitzhöhe:790 mm
Eigengewicht fahrfertig: 189 kg (Scrambler: zuzüglich Zubehör)
zul. Gesamtgewicht: 401 kg
Tankvolumen: 22 Liter (davon 4 Liter Reserve)
Link
Umbauvarianten von „Moto Guzzi Garage“
„Standard“-Test der Moto Guzzi V7 2014
Erschienen am 17.09.2017 auf Standard.at/Gianluca Wallisch